Historie
Die Verkehrsunfallforschung begann in den USA: Der Physiker William Haddon nahm Anfang der fünfziger Jahre erste Untersuchungen am Unfallort vor. In Europa wurden derartige Sicherheitsstudien erst in den späten fünfziger Jahren gestartet – in Schweden wurde die Wirksamkeit von Sicherheitsgurten auf Basis der Auswertung realer Unfälle untersucht. In Deutschland führten die Fahrzeughersteller in den sechziger Jahren die ersten Untersuchungen an der Unfallstelle durch, vor allem Opel, Daimler-Benz, Ford und VW. Bei den Erhebungen der Autobauer stand die Sicherheit der Fahrzeuge der eigenen Marke im Vordergrund.
Anfang der Siebziger war die Zahl der Verkehrsunfälle derart angestiegen, dass im Jahr 1971 mit etwa 20.000 die höchste Zahl Verkehrstoter registriert wurde und damit auch die Bundesregierung aktiv werden musste. Wissenschaftliche Teams in Heidelberg, Berlin und Hannover begannen, Unfälle vor Ort zu dokumentieren. In der niedersächsischen Landeshauptstadt war dabei der Unfallchirurg Professor Dr. Harald Tscherne in Kooperation mit der Technischen Universtität Berlin der Gründer der Unfallforschung der MHH.
Für den NATO-Ausschuss für Umweltfragen war die stetig steigende Zahl der Verkehrstoten der Anlass, eine Pilotstudie zur Unfallanalyse in Auftrag zu geben. Neben Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden war auch Deutschland, vertreten durch die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), daran beteiligt. Nach Abschluss des Projekts wurde die Unfallerhebung auf nationaler Ebene fortgesetzt. Das Team der MHH um Professor Tscherne arbeitete eng mit dem der TU Berlin zusammen und bewahrte den interdisziplinären Charakter aus Medizin und Technik, verbunden mit Psychologie.
Der aus Berlin in Hannover tätige Projektleiter war Professor Dietmar Otte, der die Arbeitsmethoden und die Datenstruktur weiter ausbaute, einen nutzbaren Erhebungskatalog entwarf und den Nutzen der Datenerfassung am Unfallort immer wieder dem Auftraggeber durch wissenschaftlich fundierte Auswertungen nahebrachte.
Die Ergebnisse der Arbeit wurden in die wissenschaftliche Unfallforschung auf nationaler und internationaler Ebene eingebracht. Ein besonderer Schwerpunkt unter der Leitung von Professor Otte lag dabei auch auf der Entwicklung von Rekonstruktionsverfahren zur Geschwindigkeitsermittlung bei Unfällen. Professor Otte ist heute anerkannter Experte auf dem Gebiet der Unfallforschung, der Biomechanik und der Begutachtung von Unfallverletzungen. Basierend auf dem Modell „Medizinische Hochschule Hannover“ werden derzeit auch in anderen Ländern Teams zur Unfallforschung aufgebaut.
Der Fokus der Forscher hat sich im Laufe der Jahre verändert. Zu Beginn der Unfallforschung stand der einzelne Unfall und dessen individuelle Verletzungssituation im Vordergrund. Später lag das Hauptinteresse auf der Unfallgesamtheit und den damit verbundenen Verletzungsgefahren und –quellen an den Fahrzeugen und am Unfallort. Aus den Erkenntnissen der Unfallforscher konnten zahlreiche Maßnahmen zur Vermeidung von Verletzungen getroffen werden. Die passive Sicherheit der Verkehrsteilnehmer hat deutlich zugenommen: In den vergangenen 40 Jahren ist die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland von 20.000 auf weniger als 4.000 pro Jahr zurückgegangen. Da jedoch die Anzahl an Unfällen mit über zwei Millionen immer noch Maßnahmen erfordert, wird in Zukunft ergänzend die aktive Sicherheit im Fokus der Unfallforscher stehen. Dabei geht es um Strategien zur Unfallvermeidung und vorbeugung.