Konkretisierung des Hypothetischen

Pandemie-Preparedness seit den 1990er Jahren – historische Bedingungen des Corona-Managements (PreCoM)

Kooperationsprojekt des Instituts für Ethik, Geschichte und Philosophie mit dem Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover. In Zusammenarbeit mit dem Forschungszentrum „Center for Inclusive Citizenship“ (CINC) der Leibniz Universität Hannover


Spätestens in den 1980er Jahren ging das „Zeitalter der Immunität“ (Thießen) seinem Ende entgegen. Quasi als Kehrseite einer neuen Phase der Globalisierung nahm die Wahrnehmung von pandemieauslösenden Viren als Bedrohung von Gesundheit, Wirtschaft, Wohlstand und Sicherheit an Bedeutung zu. Dabei zog Seuchenbekämpfung, wie historisch vielfach nachweisbar, nie ausschließlich medizinische und hygienische, sondern immer auch — mehr oder minder weitreichende — politische, gesellschaftliche, ökonomische, ethische und rechtliche Konsequenzen nach sich. Die seit den 1990ern voran getriebenen Pandemieplanungen galten daher einem epidemiologisch begründeten Handlungsfeld in einer komplexen, von vielen Unsicherheiten bestimmten Zukunft. Sowohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch verantwortliche Stellen in der Bundesrepublik versuchten so für eine Pandemiezukunft zu planen. Diese Pläne wurden nach jeder neuen Pandemie (z.B. der Vogelgrippe 2003) neu angepasst. Wer an Pandemieplanungen beteiligt wurde, auf Nutzung welcher Ressourcen die Planungen basierten, welche Public-Health-Maßnahmen man projizierte, welche Perspektiven man mit einbezog oder auch außen vor ließ, welche gesellschaftlichen Teilbereiche Berücksichtigung fanden und auf Grundlage welcher Werte, wie Gerechtigkeit, Gesundheit oder Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum die Planungen beruhten, sind zentrale Fragen einer historischen Annäherung sowie ethischer und rechtlicher Überlegungen.

Die Corona-Krise der Gegenwart zeigt die Grenzen des Versuchs, das Hypothetische planend zu konkretisieren. In Zeiten der Pandemie wurde deutlich, dass es nicht allein auf die Reaktionsfähigkeit des Gesundheitssystems ankommt, sondern auch weitere – vorher nicht bedachte – gesellschaftliche Teilbereiche wichtig sind. Was in der Krise „systemrelevant“ ist, ist ein zentraler Streitpunkt der gegenwärtigen Debatten.

Preparedness Konzepte und Pandemieplanungen entstanden in Kommunikation und Verhandlung zwischen Gesundheitsexperten, internationalen Organisationen, nationalen Akteuren und der Gesellschaft. Diese Prozesse zwischen „global“ und „national“, „öffentlich“ und „privat“, „Nation und Individuum“ werden für die Zeit seit den 1990er Jahren in zwei Projekten untersucht.
 

  • 1.     Apl. Prof. Dr. Heiko Stoff / Dr. Wiebke Lisner, Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der MHH:
    Gesundheit als Sicherheitsfrage – Auf dem Weg zu einer nationalen Pandemieplanung im vereinigten Deutschland

Nach der Vereinigung Deutschlands galt es, das öffentliche Gesundheitswesen einheitlich zu strukturieren, den Bevölkerungs- und Zivilschutz nach dem Ende des Kalten Krieges neu auszurichten und auf die Bedrohung durch unbekannte Viren zu reagieren. Zu untersuchen ist, wie internationale Pandemieplanungen in den 1990er und 2000er Jahren in Deutschland als einem nationalen Akteur, wie auch in den einzelnen Bundesländern in ihrer föderalen Struktur aufgenommen und umgesetzt wurden. Aus medizinhistorischer Perspektive fokussiert das Projekt Entscheidungs- und Planungsprozesse bei der Entwicklung nationaler und lokaler Pandemieplanungen sowie Konkretisierungen während des Ausbruchs von Pandemien in den 2000er Jahren. Dabei unterstreicht es die Bedeutung eines Krisendialogs, ebenso wie die Notwendigkeit, einen breiten Kreis von Expertisen sowie gesellschaftliche Akteure bei der Ausarbeitung von Preparedness Konzepten einzubeziehen. 
 

  • 2.     Prof. Dr. Cornelia Rauh / Dr. Jonathan Voges, Historisches Seminar der Leibniz Universität Hannover:
    Auf dem Weg zu einem globalen Alarmsystem? Die WHO und die Pandemieprävention in den 1990er und frühen 2000er Jahren

Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Aufkommen neuer Viren, suchte die WHO nach einer neuen Rolle in der globalen Politik. Die internationale Organisation entwickelte einen selbstbewussten Handlungsmodus, lud international Experten verschiedener Fachgebiete ein und veröffentlichte mehrere Pandemiepläne. Alle Pläne und Preparedness Konzepte basierten auf der Annahme, dass lediglich eine internationale Kooperation die Verbreitung von Viren stoppen könne. Die 1990er und frühen 2000er Jahre sind als Fallstudie für die zentrale Bedeutung einer starken, nationale Souveränität herausfordernden WHO bei der Entwicklung wirkungsvoller Reaktionen auf das globale Risiko einer Pandemie zu interpretieren.