Hintergrund
Sozialpsychiatrie ist eine Arbeits- und Betrachtungsweise innerhalb der Psychiatrie, die besonders die sozialen Ursachen von psychischen Störungen in den Vordergrund der Betrachtung rückt. Sie umfasst neben der Soziologie und Epidemiologie psychischer Störungen auch Konzepte und Initiativen zum Aufbau von dezentralen, partizipativen Versorgungsstrukturen. Ein neueres Forschungs- und Arbeitsgebiet der Sozialpsychiatrie stellt die seelische Gesundheit und Versorgung von Migranten dar. In Deutschland leben heute mehr als 16,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Sie repräsentieren rund 20 % der Bevölkerung der Bundesrepublik und stellen zugleich eine sehr heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Herkunftsländern und verschiedenen sozioökonomischen Milieus dar. Aus diesem Grund benötigen psychisch kranke Migranten eine auf sie abgestimmte psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung, die ihre besondere Lebenssituation berücksichtigt und unter Einbezug entsprechender professioneller interkultureller Kompetenz umgesetzt wird. Sprachliche und kulturelle Verständigungsschwierigkeiten erschweren zum einen den Zugang zu Informationen und Präventionsmaßnahmen, zum anderen bergen sie das Risiko für fehlerhafte Anamnesen bzw. Diagnosen und können damit insgesamt zu Problemen in der Therapie und Rehabilitation führen. Die Beachtung des jeweiligen Lebensalltags der Patienten mit Migrationshintergrund und die Berücksichtigung individueller Erklärungsmodelle hinsichtlich Gesundheit und Krankheit könnten hingegen dazu beitragen, Missverständnisse zu verringern. Trotz zahlreicher Fortschritte ist das derzeitige psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgungssystem nur eingeschränkt in der Lage, eine angemessene Versorgung dieser Bevölkerungsgruppe zu gewährleiten.
Übergeordnete Ziele
Das übergeordnete Ziel unserer Forschungsgruppe ist es (mittels der nachfolgend genannten Unterpunkte) relevante Einflussfaktoren wie das soziale Netz, die gesellschaftliche Einbettung und die Kultur in Bezug auf die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung insbesondere unter Betrachtung besonders vulnerabler und/oder hoch belasteter Gruppen zu untersuchen:
- Wirkung von Maßnahmen interkultureller Öffnung, stepped-care Ansätzen sowie schnittstellenübergreifender Versorgungsbegleitung auf die bedarfsgerechte Versorgung bei besonders vulnerablen Patientengruppen
- Stabilisierungsprozesse bei chronifizierten psychischen Erkrankungen und deren Implikationen für die Umgestaltung des Versorgungssystems
- Besonderheiten von Symptomgeschehen und das Erleben von Versorgungsrealitäten in Abhängigkeit spezifischer individueller Merkmale wie Geschlecht und Gender, kultureller Zugehörigkeit und Einbettung im gesellschaftlichen Kontext
refuKey ist ein Kooperationsprojekt des Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachen e.V. und der DGPPN, das von dem Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung gefördert wird. Das Projekt hat zum Ziel, die psychiatrisch-psychotherapeutische Regelversorgung in Niedersachsen interkulturell zu öffnen und eine bedarfsgerechte psychiatrisch-psychotherapeutische-psychosoziale Versorgung Geflüchteter mit dem stepped-care Ansatz zu etablieren.
Die multizentrisch und multimethodisch angelegte wissenschaftliche Begleitevaluation speist sich aus vier längsschnittlichen Teiluntersuchungen, die unter Verwendung standardisierter Fragebögen zu Projektbeginn und –ende erfolgen: (1) Sekundärdatenerhebung von niedersächsischen psychiatrischen Kliniken und PSZ, (2) BehandlerInnenbefragung in psychiatrischen Kooperationskliniken von refuKey, (3) ExpertInnen-Befragung in psychiatrischen Kooperationskliniken und PSZ, (4) Primärdatenerhebung des psychischen Zustands von Geflüchteten im refuKey-Projekt und einer Kontrollgruppe. Die Erhebung der Daten umfasst zusätzlich das Format der Fokusgruppendiskussion in der ExpertInnen-Befragung. Die Erhebung der psychischen Belastung von Geflüchteten findet jeweils zum Behandlungsbeginn und –ende statt und erfasst mittels international validierten und in der Flüchtlingsforschung meist verwendeten „state of the art” Messinstrumenten das allgemeine psychische Wohlbefinden, Depressivität, Ängstlichkeit, Psychotizismus, Somatisierung, post-traumatische Belastungssymptome und Lebensqualität als klinische Parameter sowie post-migrative Lebensstressoren in acht Sprachen. Die Ergebnisse liegen in Form jährlicher ausführlicher Evaluationsberichte vor und wurden auf mehreren internationalen Kongressen und als Publikation in der open access Zeitschrift Frontiers in Psychiatry präsentiert.
Internetauftritt: https://www.ntfn.de/, https://refukey.org/
Publikationen:
- Trilesnik, B., Mohnwinkel, V., Böhmert, N., Finkelstein, D., Özkan, I., Führmann, F., Eckhoff, L., Graef-Calliess, I.T. Evaluationsbericht zur wissenschaftlichen Begleitforschung von refuKey III, 2021.
- Trilesnik, B., Lein, E., Eckhoff, L., Özkan, I., Graef-Calliess, I.T. Evaluationsbericht zur wissenschaftlichen Begleitforschung von refuKey II, 2020.
- Trilesnik, B.*, Altunoz, U.*, Wesolowski, J., Eckhoff, L., Ozkan, I., Loos, K., Penteker, G., Graef-Calliess, IT. (2019). Implementing a needadapted stepped-care model for mental health of refugees: preliminary data of the state-funded project “refuKey”. Frontiers in Psychiatry. 10:688. Doi
„Ich packe meinen Koffer und nehme mit … Was befähigt Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen aus der stationären Wiedereingliederungshilfe dazu, wieder ein unabhängiges und zufriedenes Leben in einer eigenen Wohnung zu führen?
Die (Partial-)Remission von schweren psychischen Erkrankungen betrifft nicht nur eine Minderheit. Ca. 50 - 66% der Patienten erreichen Verbesserungen in den Bereichen krankheitsbezogene Symptomatik, familiäre Beziehungen, Lebensqualität und Reduzierung von Medikation (Farkas, 2013). Praktische Erfahrungen aus dem Heimbereich des Klinikum Wahrendorff zeigen, dass auch bei schwersten chronischen Erkrankungen ein Stabilisierungsgrad erreicht werden kann, der den Auszug in eine eigene Wohnung ermöglicht. Für die Beschreibung, dass Menschen trotz widriger Umstände Stabilisierungs- und Gesundungstendenzen zeigen, existieren zahlreiche Begriffe. Zwei erscheinen zentral und stehen in direktem wechselseitigem Zusammenhang: Resilienz und Recovery (Amering & Schmolke, 2007). Hierbei spielen zahlreiche Faktoren zusammen, von denen einige variabel und dadurch empfänglich für Veränderungsprozesse sind, wie z.B. im Bereich der Selbstmanagementfähigkeiten (Crepaz-Keay & Cyhlarova, 2012). Diese Aspekte sind sowohl auf Mikro-, Meso- und Makro-Ebene verortet und stehen in gegenseitiger Beziehung.
Fragestellungen der qualitativen aufsuchenden Längsschnittstudie mit 5 Messzeitpunkten:
- Welche Faktoren und Prozesse liegen langfristigen positiven Entwicklungen bei chronischen psychischen Erkrankungen zu Grunde?
- Wie wirken einzelne Faktoren auf Mikro-Meso- und Makro-Ebene zusammen?
- Welche Implikationen ergeben sich für die inhaltliche Ausgestaltung von Versorgungsangeboten im Bereich der stationären Wiedereingliederungshilfe und die Entwicklung ambulanter Angebote der Nachsorge?
Teilergebnisse und Projektschritte wurden hierbei auf mehreren nationalen und internationalen Kongressen und Fachtagungen veröffentlicht.
Publikationen:
- Krieger J, Buchweitz-Klingsöhr S-N & Graef-Calliess IT. Hat die Gemeindepsychiatrie versagt? CBP-Spezial 2015 7 - Dokumentation der drei Fachtage des CBP-Fachbeirates Psychiatrie 2014/2015.
In dieser populationsbezogenen Studie wird eine Migrantengruppe, die jüdischen Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion (SU), in drei Aufnahmeländern, Deutschland, Österreich und Israel, und die nicht migrierten Juden in einem Herkunftsland, Russland, untersucht.
Das Hauptziel der Studie ist die vergleichende Analyse (1) der psychischen Gesundheit dieser Migrantengruppe (gemessen als Depressivität, Ängstlichkeit, Somatisierung und Lebensqualität) im jeweiligen Aufnahmelandes mit der der Kontrollgruppe ohne Migrationshintergrund sowie (2) der psychischen Gesundheit dieser Migrantengruppe in den unterschiedlichen Ländern.
Des Weiteren werden die Effekte folgender Faktoren auf die psychische Gesundheit der MigrantInnen erforscht werden: der Akkulturationseinstellung der Migranten und der Aufnahmegesellschaft, der Religiosität, der Diskriminierungs- und Antisemitismuserfahrungen der MigrantInnen sowie der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus im Herkunfts- und Aufnahmeland.
Publikationen:
- Trilesnik, B., Graef-Calliess, I.T., Stompe, T., Fydrich, T. (2021). “Religiosity, perceived Anti-Semitism, Xenophobia and Mental Health: Experiences of Jewish Immigrants from the former Soviet Union in Austria and Germany”. Transcultural Psychiatry. Manuscript submitted for publication.
- Trilesnik, B. & Graef-Calliess, I.T. (2020). „Einfluss von post-migrativen Faktoren auf die psychische Gesundheit von Menschen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit”. Vortrag bei Treffen der deutschsprachigen Sozialpsychiater, Mallorca, Spanien.
- Trilesnik, B., Koch, S. C. & Stompe, T. (2018). Psychische Gesundheit, Akkulturation und Religiosität bei jüdischen Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion in Österreich. Neuropsychiatrie, 32 (2), 84-92.
LogO ist ein durch den Innovationsfond des GBA gefördertes Forschungsprojekt (aktuell wird beim zweistufigen Verfahren der Vollantrag ausgearbeitet), welches die Versorgungssituation gerontopsychiatrischer Patienten verbessern soll. Über einen multizentrischen Ansatz soll überprüft werden, ob eine sektorübergreifende, zeitlich befristete Intervention für gerontopsychiatrische Patienten mit bevorstehendem Orts-/Settingwechsel zur Verminderung von schnittstellenbedingten Komplikationen beiträgt. Die neue Versorgungsform besteht aus einem multiprofessionellen, überwiegend aufsuchend tätigen Team („LogO-Team“) aus Pflegefachkräften, einem Sozialarbeiter und einem Arzt. Dieses begleitet Menschen mit gerontopsychiatrischen Erkrankungen sowie deren Bezugs- bzw. Pflegepersonen in der Regel bis zu drei Wochen vor und nach einem Orts-/Settingwechsel. Ziel ist hierbei unter anderem die Verringerung von schnittstellenbedingten Komplikationen beim Orts-/Settingwechsel von Menschen mit gerontopsychiatrischen Erkrankungen.
Es besteht die Möglichkeit in unserer Forschungsgruppe Qualifikationsarbeiten (Bachelor-/Master- sowie Doktorarbeiten) sowie forschungsbezogene Praktika durchzuführen. Bei Interesse melden Sie sich gerne bei: calliess.iris@mh-hannover.de oder fabienne.fuehrmann@krh.eu
Wissenschaftliche Kollaborationen
MHH-intern:
- Prof. Dr. rer. biol. hum. Marie-Luise Dierks (Public Health)
- Prof. Dr. Siegfried Geyer (Medizinische Soziologie)
- Priv.-Doz. Dr.med. Michael Stephan (Psychosomatik)
Extern (deutschlandweit):
- DGPPN Referat für Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration (Nationaler Migrationsfragebogen)
- DGPPN Referat für Gemeindepsychiatrie
- DGPPN Referat für philosophische Grundlagen in der Psychiatrie und Psychotherapie
- DGPPN Referat für psychosoziale Versorgungsforschung und Public Mental Health
- DGPPN Referat für Psychotherapie
- Dachverband der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum (DTTTP)
- Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V. (NTFN)
- Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
- Prof. Dr. Axel Kobelt-Pönicke, Rehastrategie und Rehamanagement – Psychosomatik der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover (BEVA Validierung in türkischer Sprache)
- Dr. med. Eric Hahn, Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin
- Prof. Dr. Marcel Sieberer, Universität Witten/Herdecke sowie Marienhospital Hamm
- Prof. Dr. med. Meryam Schouler-Ocak, Charité Universitätsmedizin Berlin
- Dr. med. Ahmad Bransi, Oberberg Fachklinik Weserbergland
Extern (international):
- Section of Cultural Psychiatry, EPA
- Section of transcultural Psychiatry, WPA
- World Association of Cultural Psychiatry
Drittmittelförderungen
- Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (refukey)
- Innovationsfond des GBA (LogO)
Forschungsgruppenmitglieder
Forschungsgruppenleitung
Prof. Dr. Iris Tatjana Graef-Calliess
Chefärztin der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie, und Ärztliche Direktorin, KRH Psychiatrie Wunstorf GmbH
Telefon: +49 5031 931201
Telefax: +49 5031 931207
Exzellenz auf einem Blick:
- Mitglied der Expertengruppe zur Erstellung der S3 Leitlinien „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ für den Bereich Transkulturelle Psychiatrie & Psychotherapie und Migration
- Mitglied des Arbeitskreises „Migration & öffentliche Gesundheit“ bei der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Unterarbeitsgruppe „Krankenhaus“) – Neuauflage „Das kultursensible Krankenhaus“
- Co- Chair der Sektion Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration der DGPPN
- Chair der Section on Cultural Psychiatry der Europäischen Psychiatriegesellschaft (EPA)
Prof. Dr. med. Stefan Bleich
Ärztlicher Direktor, AMSP-Vorsitzender
Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, MHH
Telefon: +49 511 532-6748
PD Dr. Dr. Felix Wedegärtner
Oberarzt & Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, MHH
Telefon: +49 511 532-5525
Telefax: +49511 532 5526
Forschungsschwerpunkte:
- Lotsenprojekt für Menschen mit gerontopsychiatrischen Erkrankungen bei Orts-/Settingwechsel
- Refukey
Forschungsschwerpunkt:
- „Sport im Klinikalltag - Was beeinflusst die Teilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen an Bewegungs- und Sporttherapie?“
Titel der Doktorarbeit: "Psychische Folgen und ihre Behandlung bei von weiblicher Genitalverstümmelung betroffenen Frauen in Deutschland“
Titel der Doktorarbeit: "The good, the bad and the ugly: Cross-national comparison of mental health in Jewish migrants from the former USSR in different host countries (Austria, Germany and Israel)"
Weitere Forschungsprojekte: Refukey
Titel der Doktorarbeit: "Ich packe meinen Koffer und nehme mit … Was befähigt Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen aus der stationären Wiedereingliederungshilfe dazu, wieder ein unabhängiges und zufriedenes Leben in einer eigenen Wohnung zu führen?"
v.roessner-ruff@wahrendorff.de
Titel / Thema der Doktorarbeit: Geschlechtersensible Depression
Titel der Doktorarbeit: "Clinical characteristics of generalized anxiety disorder: older vs. young adults"
Titel der Masterarbeit: „Gesundheitsversorgung psychisch erkrankter Geflüchteter: Auswirkungen und Perspektiven des Projekts refuKey aus Expert*innensicht"