Gesundheit

Abnehmen Teil 1: „Adipositas ist therapierbar, aber nicht heilbar“

Jeder fünfte Deutsche ist fettsüchtig oder adipös, sagt MHH-Professorin de Zwaan. Wer an Adipositas leidet, sollte handeln, um sein Leben zu schützen.

Professorin Dr. med. Martina de Zwaan

Professorin Dr. med. Martina de Zwaan. Copyright: Karin Kaiser/MHH

Neues Jahr – gute Vorsätze! Fast jeder Mensch ist mit guten Vorsätzen in den Januar gestartet. Und häufig geht es dabei um das Eine: Abnehmen. Die Vorzeichen, die für das Jahr 2020 gesetzt werden, lauten: gesünder leben, weniger essen, mehr Sport treiben. In Zeitschriften haben Diäten jetzt wieder Hochkonjunktur. Seinen Lebensstil immer mal wieder infrage zu stellen, hält Professorin Dr. Martina de Zwaan, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, gar nicht für so verkehrt. Die Präsidentin der Deutschen Adipositas-Gesellschaft warnt: "Jeder Fünfte in Deutschland gilt als fettsüchtig oder adipös, und die Tendenz ist vor allem bei Erwachsenen steigend.“ Doch was sind die Ursachen für extremes Übergewicht? „In den überwiegenden Fällen gelangt einfach mehr Energie in den Körper, als wieder verbraucht wird“, sagt Professorin de Zwaan. Die Medizin setzt die Körpermasse in Relation zur Körpergröße und kommt so zu einem Index, dem Body-Mass-Index (BMI). Ist er größer als 30 gilt der Mensch als adipös. Eine 1,70 Meter große Frau, die 87 Kilogramm wiegt, hat einen BMI von 30 – oder ein 98 Kilogramm schwerer Mann, der 1,80 Meter misst.

Adipositas gilt als Auslöser für mehr als 60 Folgekrankheiten

Adipositas ist ähnlich wie Diabetes Typ 2 oder Bluthochdruck eine chronische Erkrankung. „Menschen mit schwerem Übergewicht zeigen die Tendenz zu wiederholten Rückfällen, nach einer Diät kommt es häufig wieder zur Gewichtszunahme, das nennt man Jojo-Effekt“, erläutert Professorin de Zwaan, „und mit zunehmendem Körpergewicht erhöht sich das Risiko, Folgeerkrankungen zu entwickeln.“ Adipositas gilt als Risikofaktor und Auslöser für mehr als 60 Folgekrankheiten. „Je nach Schweregrad der Adipositas ist die Lebenserwartung der Patientinnen und Patienten um bis zu zwölf Jahre verkürzt. Eine Hoffnung kann die Professorin den Betroffenen aber machen: „Adipositas ist therapierbar, aber“, so muss sie einschränken, „nicht heilbar.“

Die Medizinerin sieht als effektivste präventive Maßnahme gegen Adipositas, erst gar nicht dick zu werden. „Es gibt zwar jede Menge Therapien und Möglichkeiten auch stärkeres Übergewicht loszuwerden, allerdings bedeutet so eine Umstellung eine lebenslange Kontrolle, da die Krankheit nicht heilbar ist – und das macht sich kaum ein Patient bewusst.“ Laut Professorin de Zwaan kann es für Adipositas zwar eine genetische Veranlagung geben, doch bei nur sehr wenigen Betroffenen ist die Erkrankung ausschließlich genetisch bedingt. „Die meisten Menschen mit Adipositas können ihre Nahrungszufuhr nicht kontrollieren“, sagt die Klinikdirektorin. Ob über Essanfälle oder schlichtweg dauerhafte übermäßige Nahrungszufuhr: Unterm Strich nehmen sie zu viele Kalorien zu sich.

„Adipositas ist eine Zivilisationskrankheit, die durch unseren Lebensstil stark begünstigt wird“, meint Professorin de Zwaan. Rund um die Uhr, fast überall und meist im Überfluss seien Nahrung- und Genussmittel verfügbar. Und besonders die eher ungesunden, hochkalorischen seien zudem noch extrem günstig zu haben. „Da läuft etwas schief in unserer Gesellschaft.“ Menschen mit Adipositas werden zudem häufig stigmatisiert und diskriminiert, was zu einer negativen Selbstsicht führen und den Leidensdruck erhöhen kann. Auch Ärztinnen und Ärzte agieren oft nicht vorurteilsfrei.

Ein Blick in die Evolutionsbiologie zeigt ein Muster, dass aus der Zeit stammt, als die Menschen noch nicht in einer Überflussgesellschaft gelebt haben: Der Mensch ist biologisch so angelegt, dass er isst, sobald ihm Nahrung zur Verfügung steht. Hinzu kommt eine gegenläufige Tendenz: Während Frauen und Männer in früheren Zeiten mehr Energie verbraucht haben, um etwa von A nach B zu gelangen, müssen sie sich in unserer Wohlstandgesellschaft nicht mehr viel rühren. „Körperliche Anstrengungen sind heute eher die Ausnahmen“, sagt Professorin de Zwaan, „ wir nutzen Bus, Bahn, Auto, Rolltreppe, Fahrstuhl – das alles führt zu weniger Bewegung.“

Muss man also Angst haben bei einem BMI von 30?

Nein, meint die Ärztin. „Niemand muss sich einem angeblichen Schönheitsideal beugen. Allerdings müssten die Betroffenen darauf achten, dass der Wert nicht steige. „Ganz anders wird es bei einem BMI von 40, 50 oder sogar 60“, meint Professorin de Zwaan. „Wer einen solchen BMI hat, ist eine tickende Zeitbombe mit einem extrem hohen Risiko für Folgeerkrankungen.“ Doch das wollen viele Betroffene gar nicht sehen – ihnen fehlt jegliches Problembewusstsein, oder sie verdrängen ihre Krankheit. Doch die Professorin warnt: „Einen gesunden adipösen Menschen gibt es nicht – und wenn dem so sein sollte, dann ist das nur ein Übergangsphänomen.“

Professorin des Zwaan bietet mit ihrem Team der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie den Betroffenen ein individuell angepasstes, wissenschaftlich fundiertes psychosomatisches und psychotherapeutisches Behandlungskonzept an. „Wir vereinbaren gemeinsam mit unseren Patientinnen und Patienten individuelle und konkrete Therapieziele, um dann erreichbare Zwischenschritte zu entwickeln und zu bewältigen“, erläutert die Klinikdirektorin. Denn kaum etwas sei so kontraproduktiv wie zu hoch gesteckte Erwartungen, die die Betroffenen in der oft zu kurz geplanten Zeit nicht erfüllen könnten. Allein im vergangenen Jahr haben sich fast 500 adipöse Frauen und Männer in der Klinik vorgestellt, die gegen ihr massives Übergewicht chirurgisch vorgehen wollten. „Adipositastherapie beginnt im Kopf“, sagt Professorin de Zwaan. Menschen, die eher beherrschte und kontrolliert agierende Typen sind, bilden seltener eine Adipositas aus als impulsive Typen. Der Grund: „Impulsiven Menschen fällt es schwerer, konsequent zu sein.“ Und auch wenn depressive Patientinnen und Patienten an Adipositas leiden, ist die Behandlung schwer. „Aufgrund ihrer Depression fehlt ihnen die Motivation und die Energie Probleme anzugehen“, sagt die Klinikdirektorin.

Die Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie hat zusammen mit der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie und der Klinik für Rehabilitationsmedizin das interdisziplinäre Behandlungsprogramm „Leichter durchs Leben“ entwickelt. Nach einem Erstgespräch stellen die Fachleute gemeinsam mit den Betroffenen ein Individuelles Programm zusammen. „Dazu gehören natürlich die Ernährungsumstellung, mehr Bewegung und eine Verhaltensänderung“, erläutert die Professorin. Alles sei aber so dosiert, dass es niemanden überfordere.

Weniger Zucker: Politik muss Vorgaben machen

„Aufklärung allein reicht nicht aus, um das Verhalten der Menschen zu verändern“, sagt Professorin de Zwaan. „Alle Patienten wissen, was sie sich und ihrem Körper mit dem Übergewicht antun.“ Daher bietet das Programm spezielle Gruppentherapien mit Ernährungsberatung, Sport- und Verhaltenstherapie an sowie unterstützende medikamentöse Therapie und gegebenenfalls (teil)-stationärer Aufnahme in die Klinik. Die Vorsitzende der Deutschen Adipositas-Gesellschaft sieht auch die Politik in der Pflicht stringentere Vorgaben zu machen. Als gutes Beispiel sieht sie Großbritannien an: Das Land hat im April 2018 eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke eingeführt. Die Hersteller müssen, wenn ihr Getränk mehr als fünf Gramm Zucker pro 100 Milliliter enthält, umgerechnet etwa 20 Cent Steuern zahlen. Ähnliche Regelungen gibt es auch in den skandinavischen Ländern, in Frankreich, Ungarn oder Mexiko. Erste gute Ansätze sieht die Professorin auch in Deutschland. „Die Strategie zur Reduktion von Zucker sowie das Kennzeichnen von Lebensmitteln mit den Ampelfarben rot, gelb grün sind erste Schritte, reichen aber noch nicht aus.“ Professorin de Zwaan glaubt nicht an einen Erfolg, solange die Maßnahmen auf freiwilliger Basis sind.

Und wenn gar nichts mehr hilft? Dann bleibt noch eine Operation, bei der der Magen verkleinert wird. „Das ist nicht der Weisheit letzter Schluss“, warnt sie. Die Betroffenen würden nach einer solchen OP zwar kontinuierlich ab- und auch seltener wieder zunehmen. „Mit Idealgewicht ist aber auch nach einem Eingriff nicht zu rechnen.“ Und es bleibt ein großer Eingriff mit den üblichen Risiken. Professorin de Zwaan und ihr Team erstellen auch die geforderten psychologischen Gutachten für eine OP. Allen muss klar sein: „Adipositas ist eine chronische Erkrankung mit hoher Rückfallrate.“

Autor: Stefan Zorn/MHH