Aus der MHH

Schwangerschaftsdiabetes: Zahl der Betroffenen steigt

Neue Leitlinie sieht frühere Testung auf Gestationsdiabetes mellitus vor.

Immer mehr Schwangere entwickeln einen Gestationsdiabetes. Bild: Canva

Immer mehr Schwangere entwickeln einen Gestationsdiabetes. Bild: Canva

Immer mehr schwangere Frauen in Deutschland leiden an Gestationsdiabetes mellitus, einer Form der Zuckerkrankheit, die erstmalig in der Schwangerschaft auftritt und im besten Fall nach dieser wieder verschwindet. Doch was genau ist Schwangerschaftsdiabetes und wie hat sich das Vorkommen in den vergangenen Jahren entwickelt? Ein Interview mit Dr. Lars Brodowski, Oberarzt in der Gynäkologie, und Dr. med. Christoph Terkamp, Oberarzt der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie sowie des Zentrums für Innere Medizin.

Wodurch entsteht Schwangerschaftsdiabetes?

Terkamp und Brodowski: Die Pathophysiologie des Gestationsdiabetes ist dem des Typ-2-Diabetes ähnlich. Neben der genetischen Prädisposition spielen vor allem Übergewicht und der Lebensstil eine entscheidende Rolle. Die Ursache des Gestationsdiabetes besteht in einer chronischen, das heißt bereits vor Schwangerschaftseintritt bestehenden Herabsetzung der Insulinsensitivität, ähnlich des Typ-2-Diabetes mellitus. In der zweiten Schwangerschaftshälfte setzt zudem eine physiologische Insulinresistenz ein. Die körpereigene Insulinsekretion wird erhöht, allerdings kann diese Entwicklung hierdurch nur unzureichend kompensiert werden. Es entsteht ein relativer Insulinmangel, welcher zur Hyperglykämie (erhöhter Blutzuckerspiegel) führt.

Der genaue Pathomechanismus des Gestationsdiabetes ist bis heute nicht vollständig geklärt. Die hormonellen Veränderungen in der Schwangerschaft sowie die Freisetzung von bestimmten Botenstoffen aus dem Fettgewebe und der Plazenta scheinen eine Rolle zu spielen. Die Insulinresistenz und die Insulinsekrektionsstörung können teilweise durch eine genetische Prädisposition erklärt werden, aber auch andere Faktoren wie Lebensstil, Bewegung, Ernährung sowie Übergewicht haben einen wesentlichen Einfluss.

Wesentliche Risikofaktoren zur Entwicklung eines Gestationsdiabetes stellen familiäre Diabeteserkrankungen, erhöhtes mütterliches Alter, Übergewicht, frühere Schwangerschaften mit Gestationsdiabetes sowie Multiparität dar.

Wie sehen die Symptome aus? Wie wird Schwangerschaftsdiabetes diagnostiziert?

Eine erstmals in der Schwangerschaft mittels 75-g-oralem-Glukosetoleranztest diagnostizierte Glukosetoleranzstörung kann entweder ein vorbestehender Diabetes oder ein Gestationsdiabetes mellitus sein. Die Differenzierung zwischen einem vorbestehenden Diabetes und Gestationsdiabetes erfolgt durch die Höhe des Nüchternblutzuckers oder des 2-Stunden-Werts im oralem-Glukosetoleranztest, bzw. durch Bestimmung des HbA1c Wertes. Letzterer ist ein Maß für die Blutzuckerkonzentration im Blut der etwa vergangenen drei Monate. Der Zeitpunkt des routinemäßigen Screenings auf Gestationsdiabetes liegt zwischen der 24+0 und 27+6 Schwangerschaftswochen.

Ist Schwangerschaftsdiabetes gefährlich für Mutter und/oder Kind? Welche Auswirkungen gibt es, wenn dieser Typ Diabetes nicht behandelt wird?

Das Erkennen und die adäquate Therapie eines Gestationsdiabetes ist essentiell für Mutter und Kind. Insgesamt besteht beim Vorliegen eines Gestationsdiabetes ein erhöhtes Risiko für hypertensive (erhöhrter Blutdruck) Schwangerschaftserkrankungen, Infektionen, Frühgeburt und Depressionen der Schwangeren. Hinsichtlich der Geburt ist das Risiko eines Kaiserschnitts erhöht, das Risiko für höhergradige Geburtsverletzungen bei normalen Geburten steigt, insgesamt besteht ein erhöhtes Risiko für vermehrte Blutungen unmittelbar nach der Geburt. Langfristig haben Schwangere mit einem Gestationsdiabetes ein lebenslang erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen sowie ein erhöhtes Risiko einen manifesten Diabetes außerhalb der Schwangerschaft zu entwickeln.

Das erhöhte Glukoseangebot führt bei den Kindern zu einer gesteigerten Insulinsekretion und dadurch im Sinne einer „diabetischen Fetopathie“ zu einer Zunahme des Fettgewebes und letztendlich zum erhöhten Geburtsgewicht. Aufgrund verschiedener weiterer gestörter insulinabhängiger Stoffwechselprozesse steigt das Risiko für Hypoglykämien, Atemstörungen und Hyperbilirubinämien („Gelbsucht“) nach Geburt. Im späteren Leben ist das Risiko zur Entwicklung von Übergewicht, Adipositas und Glukosestoffwechselstörungen der Kinder erhöht.

Wie bietet die MHH Hilfe?

Durch eine frühzeitige Diagnostik des Gestationsdiabetes und eine anschließende gute Blutzuckereinstellung in der Schwangerschaft können all diese Risiken für die werdende Mutter und für das Kind gesenkt werden.

In der Medizinischen Hochschule ist es unser Anliegen, zu einer optimalen Versorgung der Schwangeren mit Diabetes mellitus beizutragen. Hierzu haben wir eine interdisziplinäre Sprechstunde in den Räumen der Frauenklinik etabliert. Pränatalmediziner und Diabetologen können hier ihre Kenntnisse zusammenführen und die Schwangeren gemeinsam betreuen. Die individuelle und optimale Therapie wird im direkten Gespräch zwischen den Schwangeren sowie den Ärzten beider Fachdisziplinen festgelegt. So kann z.B. eine optimale Steuerung der Therapie auch unter Berücksichtigung des kindlichen Schätzgewichtes erfolgen. Wir bieten eine Betreuung bei Verdacht auf Gestationsdiabetes mellitus, aber auch bei bereits präkonzeptionell bestehendem Diabetes mellitus an.

Welche therapeutischen Maßnahmen gibt es?

Die Therapie des Gestationsdiabetes erfolgt durch verschiedene Interventionen. Zunächst sollten in einem ausführlichen Gespräch in angstabbauender Atmosphäre die Problematik und die geplanten therapeutischen Schritte erläutert werden.

Lifestyle Intervention spielen eine zentrale Rolle in der Therapie. Hier sind im Wesentlichen körperliches Training, zum Beispiel zügiges Spazierengehen von 30 Minuten an 3 Tagen in der Woche und die Ernährungsberatung zu nennen. Eine weitere zentrale Rolle spielt die adäquate Gewichtszunahme in der Schwangerschaft. Die Empfehlungen hierzu richten sich nach dem Ausgangsgewicht der Schwangeren. Sollten diese konservativen Therapieoptionen nicht ausreichen, muss eine Insulintherapie eingeleitet werden. Begleitend sollten regelmäßige Gewichtsschätzungen des Kindes sowie regelmäßige Blutzuckerkontrollen erfolgen.

Wieso verschwindet Schwangerschaftsdiabetes häufig nach der Geburt wieder? Und in welchen Fällen passiert das nicht?

Nach der Schwangerschaft bildet sich die Glukosetoleranzstörung in circa  13 bis 40 % der Fälle nicht vollständig zurück. Besonders wenn ein hohes Ausgangsgewicht vor Schwangerschaftseintritt, eine positive Familienanamnese, ein hoher Insulinbedarf während der Schwangerschaft oder ein hohes mütterliches Alter zur Schwangerschaft bestehen, ist das Risiko zur Entwicklung eines bleibenden, manifesten Diabetes mellitus erhöht. 35 bis 60% aller Frauen mit Gestationsdiabetes entwickeln innerhalb von 10 Jahren einen manifesten Diabetes mellitus.

Eine Nachbetreuung der Frauen nach Entbindung ist daher sehr wichtig. Es wird ein oraler Glukosetoleranztest 6 bis 12 Wochen nach Entbindung sowie eine jährliche Diabetesdiagnostik, in der Regel durch einen Nüchternglukosetest und HbA1c empfohlen. Bei Planung einer erneuten Schwangerschaft sollten eine erneute Diabetesdiagnostik und bei Eintreten einer Schwangerschaft eine frühe Hyperglykämie-Diagnostik bereits im ersten Trimenon erfolgen.

Es sind gerade neue Leitlinien für das erste Trimester erschienen. Was könnten diese in Bezug auf Schwangerschaftsdiabetes bewirken?

Im Januar 2024 ist die neue Leitline ‘Ersttrimester Diagnostik und Therapie @ 11-13+6 Schwangerschaftswochen‘ erschienen (Anm. d. Red.: Verfasser diese Leitlinie ist Prof. Dr. Constantin von Kaisernberg, Perinatalzentrum der MHH). Ziele des Ersttrimester-Screenings sind die Identifikation von Risikofaktoren, die zum einen eine weiterführende Diagnostik und zum anderen eine Intervention zu einem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft ermöglichen. Da beim Gestationsdiabetes bei einer frühzeitigen Therapie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ein Benefit zu erwarten ist, ist die Hoffnung, durch ein frühes Screening den Gestationsdiabetes erkennen und früh behandeln zu können. Die bisherige Empfehlung für das erste Trimenon bestand darin, den Nüchternblutzucker und das HbA1c als Screeningmethode zu verwenden. Indikationsstellungen für ein Screening im ersten Trimenon stellen z.B. vorausgegangene Schwangerschaften mit Gestationsdiabetes oder hohem Geburtsgewicht dar.

Hier soll nun bereits im ersten Trimenon ein großer, oraler Glukosetoleranztest erfolgen. Dieser identifizierte einen GDM im ersten Trimenon in 11,3% und ist damit den übrigen im Zeitraum des Ersttrimesterscreenings zu Verfügung stehenden Methoden überlegen.

Es gibt Hinweise darauf, dass ein Vorziehen des üblichen Screeningzeitraumes zwischen 24 und 27+6 Schwangerschaftswochen auf z.B. 16 Schwangerschaftswochen einen Benefit einer frühen Therapie bei Erkennen eines Gestationsdiabetes ermöglichen kann. Allerdings muss zunächst der Zeitpunkt des Beginns der Intervention, die Art der Intervention und der mögliche Nutzen in weiteren Studien untersucht werden.