Gesundheit

Kaufsucht: Auf dem Weg zur anerkannten Krankheit

Das von der MHH geleitete deutsch-australische Forschungsteam hat die diagnostischen Kriterien für Kaufsucht ermittelt

Copyright: Karin Kaiser / MHH

Stand: 20. September 2021

Als „krankhafte Kauflust“ ging das Phänomen bereits vor mehr als 100 Jahren in die psychiatrische Fachliteratur ein. Doch bis heute ist Kaufsucht noch immer keine anerkannte psychische Störung. Damit sich das ändert, hat ein deutsch-australisches Forschungsteam unter Federführung der MHH-Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie 138 Expertinnen und Experten aus 35 Ländern befragt, die zum Thema Kaufsucht wissenschaftliche Arbeiten in begutachteten Fachzeitschriften veröffentlicht haben. Im Rahmen dieser internationalen Studie haben sie einen Vorschlag für diagnostische Kriterien entwickelt. Langfristiges Ziel ist, dass Kaufsucht als psychische Störung in das weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, ICD) aufgenommen wird. Das ist Voraussetzung, damit Krankenversicherungen eine Behandlung in ihren Leistungskatalog aufnehmen und die Kosten dafür erstatten.

Etwa fünf Prozent der Erwachsenen in Deutschland gelten als Kaufsucht gefährdet.

„Diese Menschen haben einen unwiderstehlichen Kaufdrang, und sie konsumieren, um ihre Gefühle zu regulieren“, erklärt Professorin Dr. Dr. Astrid Müller, Leiterin der Arbeitsgruppe Substanzungebundene Abhängigkeitserkrankungen der Klinik. Dort existiert bereits seit 2012 ein Angebot für eine ambulante Gruppentherapie, um die Kaufsucht zu behandeln. „Solche Hilfen gibt es derzeit aber nur in Spezialambulanzen“, erklärt sie. Niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen in psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxen fehle dagegen oft nicht nur das Fachwissen zu Diagnose und Behandlung, sondern sie könnten Therapien derzeit auch nur privat abrechnen. Und das ist für Kaufsüchtige besonders problematisch. „Die exzessiven Kaufgewohnheiten führen im Laufe der Zeit ja nicht nur zu psychischen und sozialen, sondern auch zu erheblichen finanziellen Schwierigkeiten“, betont die Psychologin.

Die Studie schafft die Voraussetzungen, um diese Probleme zu lösen. Sie wurde nach der Delphi-Methode erstellt, einem systematischen, mehrstufigen Befragungsverfahren. „Wir haben international renommierte Expertinnen und Experten aus den Bereichen Psychologie, Medizin, Gesundheitswissenschaften (Public Health) sowie Konsum- und Marketingwissenschaften in mehreren Runden befragt und aus den Rückmeldungen Schritt für Schritt Vorschläge erarbeitet, welche Kriterien für die Diagnose Kaufsucht wichtig seien könnten und in welchem Bereich man sie einordnet“, sagt Dr. Nora Laskowski, Wissenschaftlerin an der Klinik und gemeinsam mit Professorin Müller Erstautorin der Studie. Dafür musste die Wissenschaftlerin zunächst mühsam Hunderte Forschungspublikationen zum Thema Kaufsucht sichten, um die Autorinnen und Autoren herauszusuchen und daraus eine Expertengruppe zu ermitteln. „Allein diese Liste zusammenzustellen hat Monate gedauert“, sagt Dr. Laskowski.

Auch die sprachlichen Barrieren galt es zu beachten.

„Wir mussten uns auf einheitliche, möglichst neutrale Beschreibungen und Begriffe einigen“, sagt die Wissenschaftlerin. Das fängt schon beim Namen für die Erkrankung an. Die Expertenrunde einigte sich auf Buying-Shopping Disorder, also eine Kauf-Shopping-Störung. Ihre Kennzeichen sind unter anderem eine eingeschränkte Kontrolle bis hin zum völligen Kontrollverlust über den Warenkonsum, und eine zwanghafte gedankliche Beschäftigung mit Einkaufen. Kaufsucht resultiert in massiven negativen Folgen. Dazu gehören neben Verschuldung auch familiäre Probleme, psychische Belastungen und eine deutlich reduzierte Lebensqualität.

„Auf Grundlage unserer Empfehlungen kann jetzt ein diagnostischer Interviewleitfaden entwickelt werden, mit dem eine valide Diagnose gestellt und der Schweregrad einer Kauf-Shopping-Störung gemessen werden kann“, sagt Professorin Müller. Damit der Kriterienkatalog in die ICD-Klassifikation aufgenommen wird, muss er zuvor jedoch auf seine praktische Tauglichkeit an Patientinnen und Patienten getestet werden. Gelingt der Nachweis, wäre das ein Meilenstein für Menschen mit Kaufsucht. Als anerkanntes Störungsbild würde sich das Therapieangebot für Patientinnen und Patienten enorm vergrößern. Und auch die Forschung zur Kaufsucht käme einen großen Schritt voran. „Wenn alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach einheitlichen Kriterien arbeiten, werden auch die Ergebnisse der Studien vergleichbarer“, betont die Psychologin.

Die Studie ist in der Fachzeitschrift Journal of Behavioral Addictions erschienen. Neben der MHH-Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie unter der Leitung von Professorin Dr. Martina de Zwaan waren auch die Universität Duisburg-Essen, die Technische Universität Dresden und australische Universitäten in Adelaide und Canberra beteiligt.

Autorin: Kirsten Pötzke

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