Lebenschancen nach der Operation angeborener Herzfehler II - Ein 15-Jahres-Follow-up
Das Projektteam
Projektleitung
Prof. Dr. Siegfried Geyer für den soziologisch-psychologischen Teil (Medizinische Soziologie, MHH)
Prof. Dr. Thomas Paul, Prof. Dr. Kambiz Norozi für den pädiatrisch-kardiologischen Teil (Klinik für Pädiatrische Kardiologie und Intensivmedizin, Uniklinik Göttingen)
Projektdurchführung
Prof. Dr. Claudia Dellas (Klinik für Pädiatrische Kardiologie und Intensivmedizin, Uniklinik Göttingen)
Lena Röbbel (Medizinische Soziologie, MHH)
Zusammenfassung der Ergebnisse (Lebenschancen I)
In den vorangegangenen Untersuchungen zeigte sich, dass die beruflichen Lebenschancen von Patientinnen und Patienten mit angeborenen Herzfehlern sich über die in der Studie abgedeckte Lebensspanne nicht von denen der Allgemeinbevölkerung unterscheiden. Die Ergebnisse zur Berufstätigkeit sowie zur sozialen Mobilität vermittelten einen insgesamt positiven Eindruck von der Integration der Patienten in das alltägliche und berufliche Leben, ebenso erschienen die Patienten trotz gelegentlicher krankheitsbedingter Benachteiligungen im Beruf zufrieden und erfolgreich. Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit sowie des Körperbildes gab es zwar Unterschiede zwischen Patienten und Allgemeinbevölkerung, deutliche und konsistente Differenzen zeigten sich jedoch nur bei den Männern. Die Ergebnisse deuteten auf ein ablehnenderes Körperbild als bei Frauen hin; Männer schätzten sich als deutlich defizitärer und als weniger leistungsfähig ein. Die ablehnende Haltung wies deutliche Unterschiede zur Allgemeinbevölkerungsstichprobe auf und hatte zusätzlich deutliche Auswirkungen auf eine breite Variation psychischer Belastungsmaße. Diese Unterschiede zeigten sich insbesondere bei körperlichen Symptomen wie Zwanghaftigkeit im Verhalten, Unsicherheit, Ängstlichkeit und Aggressivität. Ein ablehnendes Körperbild hatte insbesondere bei Männern deutliche Effekte auf die Ausprägungen von Depressivität, Angst, Feindseligkeit und Psychotizismus, während die Effekte bei Frauen nur in abgeschwächter Form auftraten. Aus den Ergebnissen wurde ersichtlich, dass Männer deutlich stärker unter den Einschränkungen ihres angeborenen Herzfehlers litten als Frauen, und dies ist insbesondere im Kontext der Einschätzung einer eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit zu sehen. Diese von den Patienten wahrgenommenen Beeinträchtigungen relativierten die insgesamt positiv zu beurteilende berufliche Integration.
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Heutiger Stand der Forschung
Etwa ein Prozent aller lebend Geborenen leiden unter einer Fehlbildung des Herzens oder der großen Gefäße. Die Prävalenz angeborener Herzfehler hat sich in den letzten 25 Jahren weltweit kaum verändert. Demnach kommen in Deutschland jährlich ca. 6500 bis 7000 Neugeborene mit einem angeborenen Herzfehler zur Welt. Durch die zunehmend erfolgreichere Behandlung erreichen immer mehr Kinder das Erwachsenenalter, sodass die Gruppe Erwachsener mit operierten oder interventionell behandelten angeborenen Herzfehlern stetig zunimmt. Zurzeit leben schätzungsweise mehr als 150000 Erwachsene mit einem behandelten und ggf. weiterhin behandlungsbedürftigen angeborenen Herzfehler in Deutschland (EMAH-Patienten). Durch die gestiegene Lebenserwartung dieser Patientengruppe ergeben sich neue Anforderungen an die medizinische Versorgung. Operationen am Herzen oder an den benachbarten Gefäßen sind zusätzliche Risikofaktoren für die vorzeitige Entwicklung einer Herzinsuffizienz. Das Risiko steigt in dieser Gruppe in Abhängigkeit von der Schwere des Herzfehlers bereits ab dem 30. Lebensjahr an, während in der Allgemeinbevölkerung diese Entwicklung erst jenseits des 60. Lebensjahres eintritt.
Ziele
Die allgemeinen Ziele des Projekts bestehen in der Untersuchung von Veränderungen der physischen und psychischen Gesundheit und der Lebenssituation in Abhängigkeit von der Schwere des angeborenen Herzfehlers. Die Frauen und Männer der Untersuchungsgruppe werden zum Zeitpunkt des geplanten Projektbeginns zwischen 26 und 57 Jahre alt sein. Es soll untersucht werden, ob die insgesamt positiven Ergebnisse der Voruntersuchung (siehe unten) aus den Jahren 2003-2005 auch nach mehr als 15 Jahren noch gültig sind, oder ob sich ab einem bestimmten Alter die allgemeine Leistungsfähigkeit etwa aufgrund kardialer Einschränkungen in einem Maße verringert hat, dass auch das Risiko sozialer Probleme zunimmt. Mit der Studie werden die Auswirkungen der Erkrankungen sowohl auf das berufliche und auf das private Leben sowie auf die psychische Gesundheit betrachtet. Ein weiterer innovativer Aspekt der Studie ist die Einbeziehung bevölkerungsbezogener Vergleichsdaten zu sozialen Auf- und Abstiegsprozessen, zum Körperbild sowie zur Lebensqualität. Damit wird es möglich, gesundheitliche Veränderungen, die sich auf angeborene Herzfehler zurückführen lassen, von „natürlichen“ Verläufen zu trennen.
Das Projekt soll Antworten auf die folgenden Fragestellungen geben
- Hat in der Studienpopulation das Ausmaß der Herzinsuffizienz vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt zugenommen?
- Weist die Entwicklung der Herzinsuffizienz bei Männern und Frauen unterschiedliche Verläufe auf?
- Unterscheiden sich die EMAH-Patienten von der Allgemeinbevölkerung hinsichtlich des Alters beim Ausstieg aus dem Beruf?
- Unterscheiden sich die Risiken für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben nach Berufsgruppen?
- Haben zwischen dem ersten und dem zweiten Untersuchungszeitpunkt intragenerationale berufliche Auf- und Abstiegsprozesse stattgefunden?
- Haben sich über den Untersuchungszeitraum Körperbild und psychische Beeinträchtigungen verändert und haben sich die Zusammenhänge zwischen beiden verändert?
Förderung: Fördergemeinschaft Deutsche Kinderherzzentren e.V.
Förderzeitraum: 01.06.2017 - 01.06.2019
Vorgängerprojekt
Leitung:
Prof. Dr. Siegfried Geyer für den soziologisch-psychologischen Teil
Prof. Dr. Armin Wessel für den pädiatrisch-kardiologischen Teil
Dr. Monika Zoege, Prof. Dr. Kambiz Norozi, Valentin Alpers, J. Arnold, Almut Kempa, Simone Wandt
Hintergrund:
Etwa 1% aller Kinder kommt mit einem angeborenen Herzfehler auf die Welt. Die Operationen zur Korrektur beginnen heute meist bald nach der Geburt. Die Fehlbildung kann entweder vollständig korrigiert werden (kurativ) oder es können Restdefekte zurückbleiben (reparative Operation). Bei schweren Herzfehlern ist nur eine palliative Operation möglich, die eine teilweise Korrektur ermöglicht, es bleiben jedoch immer noch schwere Symptome und Beeinträchtigungen. Je nach der Schwere des Herzfehlers steigen ab der Mitte des 20. Lebensjahrs die Risiken einer Herzinsuffizienz, sodass ein großer Teil der Betroffenen kontinuierlich in Behandlung bleiben muss.
In den letzten Jahrzehnten haben sich die Überlebensraten deutlich verbessert; das Ziel der Behandlung ist nicht mehr das Überleben der Patientinnen und Patienten, sondern ein möglichst gutes und aktives Leben. In diesem Kontext wurde in den Jahren 2002 bis 2005 ein Projekt zu den Lebenschancen von Patientinnen und Patienten durchgeführt, um mehr über die familiären und beruflichen Chancen zu erfahren und um nach Optimierungsmöglichkeiten in der Betreuung zu suchen.
Üblicherweise geht man davon aus, dass die einzelnen Bereiche der Existenz durchgängig positive oder eher nachteilige Muster aufweisen. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn Menschen mit einer sehr guten Karriere können durchaus psychisch belastet sein oder sich in irgendeiner Weise benachteiligt wahrnehmen, auch die Leistungsfähigkeit des Herzens bestimmt nicht notwendigerweise die subjektive Einschätzung des eigenen Erfolgs.
Das Projekt wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG-Az. GE 1167/2-1 und WE 2670/1-1) gefördert, die Projektleiter waren Siegfried Geyer für den sozialwissenschaftlich- psychologischen Teil und Armin Wessel für den pädiatrisch-kardiologischen Teil.
Die in die Studie einbezogenen 361 Patientinnen und Patienten im Alter zwischen 14 und 45 Jahren stammten aus der Pädiatrischen Kardiologie des Universitätsklinikums Göttingen. Die Studie ist beendet, die Ergebnisse sind publiziert, und als Abschluss wurde ein Symposium veranstaltet, zu dem die Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen, Selbsthilfegruppen sowie Ärztinnen und Ärzte eingeladen wurden.
Die Ergebnisse in Kurzfassung:
Lebenschancen im Beruf: Hinsichtlich der beruflichen Karriere hat sich gezeigt, dass etwa 11% niemals einen Beruf aufgenommen haben. Die ins Berufsleben eingetretenen Patientinnen und Patienten haben jedoch Karrieren durchlaufen, die sich von Berufsverläufen in der Allgemeinbevölkerung nicht unterscheiden.
Sie sind zu einem höheren Anteil teilzeitlich beschäftigt, ihre Berufszufriedenheit unterscheidet sich jedoch nicht von der gleichaltriger Vergleichspersonen. Dies waren unerwartete und eher positive Befunde.
Die Chancen für soziale Auf- und Abstiege waren ebenfalls nicht geringer als bei nicht erkrankten Vergleichspersonen. Die Gründe liegen zu einem erheblichen Teil darin, dass die Patientinnen und Patienten auf ihrem Lebensweg wesentlich stärker von ihren Eltern unterstützt wurden als üblich, sie investieren mehr in die Chancen ihrer Kinder und betreuen sie intensiver. Es wird zu untersuchen sein, ob sich diese positiven Karriereverläufe auch durch das fünfte Lebensjahrzehnt hinweg fortsetzen.
Ehe und Familie: Patientinnen und Patienten haben insgesamt seltener Kinder und weniger als in der Allgemeinbevölkerung gründen eine Familie.
Psychische Gesundheit: Wir nahmen zum Beginn der Studie an, dass Patientinnen und Patienten stärker belastet sind als Gleichaltrige aus der Allgemeinbevölkerung. Dies hat sich nicht gezeigt, und man darf Menschen mit angeborenen Herzfehlern nicht aus der Sicht der Psychopathologie betrachten. Sie weisen zwar etwas höhere Grade an Depressivität und Angst auf, jedoch liegen die Werte bei Frauen noch im Normbereich. Die Männer sind durchweg stärker belastet als die Frauen, sie leiden stärker an ihrem angeborenen Herzfehler. Dies lässt sich zu einem wesentlichen Teil auf Auswirkungen des Körperbilds zurückführen. Während Frauen mit der evtl. verringerten Leistungsfähigkeit ihres Herzens gut umgehen können und sich mehrheitlich auch nicht an der Operationsnarbe stören, sehen die Männer ihren Körper als nicht stark genug an und leiden darunter. Die psychischen Belastungen ergeben sich zum allergrößten Teil aus diesen wahrgenommen Defiziten der körperlichen Leistungsfähigkeit.
Insgesamt hat das Projekt Erkenntnisse zur verbesserten Versorgung von Patientinnen und Patienten mit angeborenen Herzfehlern erbracht. Neben dem Zuwachs an Wissen über den Langzeitverlauf angeborener Herzfehler war es wissenschaftlich sehr erfolgreich; insgesamt sind 17 mehrheitlich internationale Veröffentlichungen entstanden, hinzu kommen eine Habilitation, fünf Promotionen und über 20 nationale und internationale Vorträge.
Publikationen aus dem Projekt:
Geyer, S., Norozi, K., Buchhorn, R., & Wessel, A. 2009, "Chances of employment in women and men after surgery of congenital heart disease: Comparisons between patients and the general population", Congenital Heart Disease 4: 25-33.
Geyer, S., Norozi, K., Wessel, A., Buchhorn, R., & Zoege, M. 2008, "Lebenschancen nach der Operation angeborener Herzfehler" In: Der blinde Fleck. Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung K. Tiesmeyer et al. (Hrsg.) Huber, Bern: 77-92.
Geyer, S., Norozi, K., Zoege, M., Buchhorn, R., & Wessel, A. 2007, "Life chances after surgery of congenital heart disease: The influence of cardiac surgery on intergenerational social mobility. A comparison between patients and general population data", Journal of Cardiovascular Prevention and Rehabilitation 14: 128-134.
Geyer, S., Hessel, A., Kempa, A., Zoege, M., Norozi, K., Wessel, A., & Albani, C. 2006, "Psychische Symptome und Körperbild bei Patientinnen und Patienten nach der Operation angeborener Herzfehler: Vergleiche zwischen Patienten und Allgemeinbevölkerung", Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie 56: 425-431.
Geyer, S., Norozi, K., Zoege, M., Kempa, A., Buchorn, R., & Wessel, A. 2006, "Psychological symptoms of patients after surgery of congenital heart disease (CHD)", Cardiology in the Young 16: 540-548.
Geyer, S., Zoege, M., Norozi, K., Kempa, A., Buchhorn, R., & Wessel, A. 2008, "Study Participation and Nonresponse in a Population of Adolescents and Adults with Operated Congenital Heart Disease (GUCH Patients)", Congenital Heart Disease 3: 26-32.
Norozi, K., Bahlmann, J., Raab, B., Alpers, V., Arnhold, J., Kühne, T., Klimes, K., Zoege, M., Geyer, S., Wessel, A., & Buchhorn, R. 2007, " A prospective, randomized, double-blind, placebo controlled trial of beta-blockade in patients who have undergone surgical correction of tetralogy of Fallot", Cardiology in the Young 17: 372-379.
Norozi, K., Buchhorn, R., Wessel, A., Bahlmann, J., Raab, B., Geyer, S., Kühne, T., Beibei, L., Werdan, K., & Loppnow, H. 2008, "Beta-Blockade Does Not Alter Plasma Cytokine Concentrations and Ventricular Function in Young Adults With Right Ventricular Dysfunction Secondary to Operated Congenital Heart Disease", Circulation Journal 72: 747-752.
Norozi, K., Buchhorn, R., Bartmus, D., Alpers, V., Arnhold, J. O., Schoof, S., Zoege, M., Binder, L., Geyer S, & Wessel, A. 2006, "Elevated brain natriuretic peptide and reduced exercise capacity in adult patients operated on for tetralogy of fallot is due to biventricular dysfunction as determined by the myocardial performance index", Americal Journal of Cardiology 97: 1377-1382.
Norozi, K., Wessel, A., Alpers, V., Arnhold, J. O., Geyer, S., Zoege, M., & Buchorn, R. 2006, "Incidence and risk distribution of Heart Failure in Adolescents and adults with congenital heart disease after cardiac surgery", American Journal of Cardiology 97:1238-1243.
Norozi, K., Wessel A, Buchhorn, R., Alpers, V., Arnhold, J., Zoege, M., & Geyer, S. 2007, "Is the Ability Index Superior to the NYHA Classification for Assessing Heart Failure? - Comparison of two Classification Scales in Adolescents and Adults with Operated Congenital Heart Defects", Clinical Research in Cardiology 96: 1-6.
Norozi, K., Buchorn, R., Alpers, V., Arnhold, J. O., Schoof, S., Zoege, M., Geyer, S., & Wessel, A. 2005, "Relation of systemic ventricular function quantified by myocardial performance index (Tei) to cardiopulmonary exercise capacity in adults after mustard procedure for transposition of the great arteries", American Journal of Cardiology 96: 1721-1725.
Norozi, K., Zoege, M., Buchorn, R., Wessel, A., & Geyer, S. 2006, "The influence of congenital heart disease on psychological conditions in adolsecents and adults after corrective surgery", Congenital Heart Disease 1: 282-288.
Norozi, K., Wessel, A., Alpers, V., Arnhold, J. O., Binder, L., Geyer, S., Zoege, M., & Buchhorn, R. 2007, "Chronotropic Incompetence in Adolescents and Adults With Congenital Heart Disease After Cardiac Surgery", Journal of Cardiac Failure 13: 263-268.
Norozi, K., Buchhorn, R., Yasin, A., Geyer, S., Binder, L., Seabrook, J. A., & Wessel, A. 2011, "Growth differentiation factor 15: An additional diagnostic tool for the risk stratification of developing heart failure in patients with operated congenital heart defects?", American Heart Journal 162: 131-135.
Nothroff J, Norozi, K., Alpers, V., Arnhold, J. O., Wessel, A., Ruschewski, W., & Buchhorn, R. 2006, "Pacemaker implantation as a risk factor for heart failure in young adults with congenital heart disease", Pacing Clinical Electrophysiology 29: 386-392.
Schoof, S., Norozi, K., Buchhorn, R., Geyer, S., Zoege, M., Kempa, A., Alpers, V., Arnhold, J., & Wessel A 2005, "Unterscheiden sich hämodynamische Parameter von Frauen und Männern mehr als 20 Jahre nach OP angeborener Herzfehler?", Zeitschrift für Kardiologie 94: 633.