Ein vehementes Plädoyer für die Widerspruchslösung

28. Jahrestagung der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG) in Hannover: Wie können die Fortschritte der Transplantationsmedizin mehr Patienten zu Gute kommen?

Eingang des Hannoverschen Congress Centrums zur Tagung der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG) 2019; Copyright: Thomas Hauss/K.I.T. Group GmbH Dresden
Eingang des Hannoverschen Congress Centrums zur Tagung der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG) 2019; Copyright: Thomas Hauss/K.I.T. Group GmbH Dresden

Kommt es in Deutschland zur Trendwende bei Organspende und Transplantation? Die 28. Jahrestagung der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG) in Hannover stand im Zeichen der Hoffnung auf das zweite neue Organspende-Gesetz, das Mitte Januar 2020 vom Deutschen Bundestag verabschiedet werden soll. Die DTG und ihre Vertreter sprachen sich in Hannover erneut vehement für die Widerspruchslösung aus, die in einer großen Zahl europäischer Staaten einen Aufschwung bei der Organspende gebracht habe. „Organspende und Transplantation in Deutschland: eine humanitäre Krise“, so das Verdikt des scheidenden DTG-Präsidenten Prof. Bernhard Banas (Regensburg), dessen Nachfolge Prof. Dr. Christian Strassburg (Bonn) antritt. Die Jahrestagung der wissenschaftlichen Fachgesellschaft, der mehr als 800 Mitglieder angehören, bot zudem Vorträge und Diskussionen zum gesamten Spektrum der klinischen und wissenschaftlichen Transplantationsmedizin – von klinischen Studien zu Immunsuppressiva, dem Einsatz der Organperfusion und der Behandlung psychischer Probleme nach Organtransplantation bis zur Xenotransplantation. Parallel fand – mit großem Zuspruch – das 23. Symposium des Arbeitskreises Transplantation Pflege (AKTX Pflege) statt.   

Zum zweiten Mal nach 2002 war Hannover Tagungsort der DTG. Vom 17.-19. Oktober 2019 firmierte das Hannover Congress Center, unweit der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), als Treffpunkt der deutschen Transplantationsmedizin. „In Hannover haben stilbildende Pioniere der deutschen Transplantationsmedizin und -chirurgie wie Rudolf Pichlmayr und Hans-Georg Borst gewirkt“, so die Kongresspräsidenten Prof. Dr. Axel Haverich und Prof. Dr. Gregor Warnecke. Die Tradition in Hannover wirkt fort. Über alle soliden Organe gerechnet wird an der MHH eines der größten Transplantationszentrum Deutschlands betrieben und an innovativen Methoden gearbeitet, um die Ergebnisse der Transplantation und das Leben mit einem Transplantat weiter zu verbessern.

„In Deutschland brauchen 30.000 Menschen ein neues Organ“

Doch die drängendste Frage lautet derzeit: Was kann getan werden, damit die Fortschritte der Transplantationsmedizin mehr Patienten in Deutschland zu Gute kommen? Bei der Pressekonferenz im Rahmen des DTG-Kongresses zeichnete Präsident Bernhard Banas ein realistisch-düsteres Bild. Nach offiziellen Zahlen stünden in Deutschland derzeit 10.000 Patienten auf der Warteliste, drei Wartelistenpatienten würden jeden Tag sterben. Da aber viele Patienten, die für eine Operation zu krank sind, von der Liste genommen würden, müsse man davon ausgehen, dass es in Deutschland ungefähr 30.000 Patienten gäbe, die eine Transplantation brauchen, sagte Banas. Deutschland hinke im internationalen Vergleich dramatisch hinterher: „Bei uns wird ungefähr jeder tausendste Verstorbene zum Organspender, in anderen Ländern sind es drei- bis viermal so viele.“ 2018 gab es in Deutschland rund 11,3 Spender je Million Einwohner – unter den acht Ländern im Eurotransplant-Verbund ist dies der letzte Platz.

Von dem Verbund profitieren viele Patienten in Deutschland. Der designierte DTG-Präsident Strassburg wies darauf hin: „In Deutschland transplantieren wir Organe, die aus anderen europäischen Ländern kommen.“ Es würden also auch Organe transplantiert, die in den Niederlanden oder Belgien entnommen wurden, in Ländern, in denen die Widerspruchslösung gilt. Beim Spitzenreiter in Europa, Spanien, gibt etwa 48 Spender pro Million Einwohner. Auch dort gilt eine Widerspruchsregelung – es werden aber auch Organe von herztoten Verstorbenen, nicht nur von Hirntoten entnommen. Auch über diese Praxis der Organspende, die mittlerweile in immer mehr EU-Ländern Routine ist, sowie über eine Ausweitung der Organlebendspende über den engeren Kreis der Angehörigen und nahestehenden Personen hinaus müsse offen diskutiert werden, so die Forderung der DTG-Vertreter bei ihrer Pressekonferenz  in Hannover.

22 von 28 EU-Staaten haben Widerspruchslösung

Die Transplantationsgesellschaft plädiert eindringlich für die Einführung der Widerspruchslösung in Deutschland. Europäische Länder mit einer Widerspruchsregelung hätten 25 bis 30 Prozent mehr Organspenden als Länder mit einer Zustimmungsregelung, sagte Prof. Banas unter Bezug auf Zahlen des Europarats. In 22 von 28 Mitgliedsstaaten gelte die Widerspruchslösung. Bisher sind in Deutschland Organentnahmen nur bei Zustimmung des Verstorbenen bzw. stellvertretend seiner Angehörigen erlaubt. Obgleich Befragungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung stets zeigen, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung die Organspende nach dem Tod befürwortet, und 36 Prozent angeben, einen Spenderausweis zu besitzen, wird dieser doch nur bei rund 10-15 Prozent der potentiellen Organspender gefunden und die Ablehnungsquoten sind relativ hoch.

Die Vertreter der DTG zollten dem Engagement von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Hochachtung: Er habe die prekäre Situation erkannt und tatkräftig innerhalb kurzer Zeit zwei Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht. Das „Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende“ (GZSO), das die Transplantationsbeauftragten und das Engagement der Kliniken bei der Organspende stärkt, ist bereits seit 1. April 2019 in Kraft. Ein Gesetzentwurf einer Abgeordnetengruppe um Gesundheitsminister Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD), der die „doppelte Widerspruchslösung“ vorsieht, steht Mitte Januar 2020 zur Abstimmung.

Abstimmung zur Widerspruchslösung mit ungewissem Ausgang

Demnach sollen alle Volljährigen als Organspender gelten, solange sie nicht widersprochen haben. Zusätzlich werden die Angehörigen gefragt, ob ihnen ein Widerspruch des Verstorbenen bekannt ist. Der konkurrierende Gesetzentwurf der Gruppe um Grünen-Chefin Baerbock (Entscheidungslösung) sieht dagegen vor, dass die Bürger regelmäßig bei der Verlängerung ihrer Ausweise nach ihrer Bereitschaft zur Organspende befragt werden. Hausärzte sollen ihre Patienten mindestens alle zwei Jahre über eine mögliche Spende beraten. Die Antworten sollen dann in einer zentralen Datenbank registriert werden.

Derzeit sei der Ausgang der Entscheidung im Bundestag ungewiss und werde voraussichtlich knapp ausfallen. Prof. Banas ging von einer Patt-Situation aus. Die DTG, deren Vertreter sich bereits im Vorfeld vielfältig bei Anhörungen und Veranstaltungen engagiert hatten, forderte ihre Mitglieder in den Transplantationszentren auf, ihre Bundestagsabgeordneten einzuladen, damit diese sich in dem Zentrum vor Ort über die Situation der Patienten und die Themen Organspende und Transplantation informieren können. 

Organspende: 2019 Rückgang trotz GZSO 

Noch wenig Wirkung auf die Organspende zeigt bislang das Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende (GZSO). Die Kliniken erhalten seit April 2019 eine angemessene finanzielle Kompensation für die Freistellung der Transplantationsbeauftragten und die Umsetzung von Organentnahmen. Für 2019 konnte die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) noch keine guten Nachrichten überbringen. In den ersten neun Monaten 2019 ist die Organspende voraussichtlich sogar um wenige Prozentpunkte zurückgegangen. Zugenommen hat jedoch die Zahl der organspendebezogenen Kontakte der Kliniken mit der DSO, wie DSO-Vorstand Axel Rahmel in Hannover berichtete. Im Jahr 2018 waren es 2.811 gewesen; für 2019 wird nach Hochrechnungen mit 3.038 Kontakten gerechnet.

Dennoch zeigte sich Rahmel optimistisch. Wenn alle Kliniken mit Intensivstationen Transplantationsbeauftragte freistellen und auch die angemessene Vergütung des Aufwands für Organentnahmen - maximal knapp 20.000 Euro für eine Multiorganspende - greift, so ständen in Deutschland insgesamt mehr als 1.000 Koordinatoren zur Verfügung – „In-House“ in den Kliniken und bei der DSO. Damit würde die Zahl der Koordinatoren in Spanien – dort sind es ca. 550 – weit übertroffen werden. 

Initiativplan Organspende: Umsetzung hat begonnen – Angehörigenbetreuung und Dankesbriefe

Parallel zu den gesetzlichen Veränderungen haben die haupt- und ehrenamtlichen Akteure bei der Organspende in Deutschland sich unter Federführung der DSO und mit Unterstützung des Bundesgesundheitsministeriums 2019 auf einen „Gemeinschaftlichen Initiativplan Organspende“ verständigt. Er enthält sowohl Maßnahmen zur Stärkung der Organspende in den Kliniken wie in der Öffentlichkeit, u.a. der Kultur der Organspende und die gesellschaftliche Wertschätzung von Organspendern und ihren Angehörigen. Rahmel berichtete von der ersten zentralen Veranstaltung zum Dank an die Organspender im September 2019 in Halle, die mit der Eröffnung eines „Parks des Dankens, des Erinnerns und des Hoffens“ ein positives Zeichen setzte.  

In den nächsten Wochen soll zudem allen Transplantationszentren ein Flyer zur Verfügung gestellt werden, der in Abstimmung mit der DTG, den Patientenverbänden und anderen erstellt wurde. Er erklärt die neue Regelung zur Übermittlung von anonymisierten Briefen zwischen Organempfängern und Angehörigen von Organspendern. In einem „Dankesbrief“ können transplantierte Patienten dem Organspender und seinen Angehörigen ihren Dank übermitteln. Ergebnisbriefe aus den Zentren informieren die Angehörigen zusätzlich über den Ausgang der Transplantation. Die Patienten und Angehörigen müssen dazu ihre Einverständnis geben; die DSO und die Transplantationszentren übermitteln die anonymen Schreiben.

Teilnahme am Initiativplan und politische Aktivitäten der DTG

Neue Gesetze, Richtlinien und Initiativen: Der Vorstand der DTG und zahlreiche Mitglieder waren 2018/2019 vielfältig eingebunden. Herausragende Themen waren u.a. die Mindestmengenregelung des Gemeinsamen Bundesausschusses G-BA für Nieren- und Lebertransplantationen sowie die Mitarbeit an der Erstellung des Transplantationsregisters.

Die Bundesärztekammer (BÄK) und ihre Kommissionen, insbesondere die Ständige Kommission Organtransplantation (StäKO), sind ebenfalls wichtige Partner der DTG, insbesondere bei der Erarbeitung und Umsetzung der Richtlinien für Organallokation und Transplantation. 2019 gab es einen Generationswechsel in der Führung der BÄK sowie der StäKO. Prof. Banas berichtete von einem konstruktiven Gespräch mit dem neuen Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt. Viele Fragen seien im Zusammenhang mit der Richtlinienarbeit zu klären, etwa beim Evidenzgrad von Entscheidungen im Zusammenhang, wenn ausreichende Daten fehlen, oder bei der Definition der Begriffe „Dringlichkeit“ und „Erfolg“, die der Organallokation zugrunde liegen.

Neue Leitung der StäKO der Bundesärztekammer präsentierte Agenda

Die StäKO wird seit 2019 in Nachfolge von Prof. Hans Lilie (Halle) von dem Rechtswissenschaftler Prof. Torsten Verrel (Bonn) geleitet, der der Kommission seit 2006 angehört. Bei der DTG-Tagung in Hannover berichtete er über die geleistete und geplante Kommissionsarbeit. Auch künftig sollen die Richtlinien einmal pro Amtsperiode überarbeitet werden. So sei z.B. die Überarbeitung der Richtlinie Nierentransplantation 2019 abgeschlossen worden; die Genehmigung durch das Bundesgesundheitsministerium stehe allerdings noch aus. Bei der Pankreas-Richtlinie stehe nur noch die Umsetzung durch Eurotransplant aus.

Prof. Verrel sieht es als wichtiges Ziel,  die Struktur und Gliederung der verschiedenen Richtlinien möglichst zu vereinheitlichen und die Transparenz der Dokumentation der Evidenzbasierung zu verbessern. Neu sei, dass die überarbeiteten Richtlinien zunächst einer Aktualitätsprüfung unterzogen würden, in die sich die Transplantationszentren einbringen kann. Erst danach würden die Arbeitsgruppen befasst und ein Fachanhörungsverfahren abgehalten.

Diskussion zu Tagungsorten

Soll die DTG-Tagung jedes zweite Jahr in der Bundeshauptstadt stattfinden? Berlin war bereits drei Mal Ausrichtungsort, zuletzt 2018. Langfristig planbare und damit finanziell attraktive Tagungsmöglichkeiten sowie die gute politische Sichtbarkeit sprechen dafür. Dennoch konnte sich der Vorschlag des DTG-Vorstands bei den Mitgliedern in Hannover nicht durchsetzen. Die nächsten Tagungsorte stehen indes mit Köln (2020) und Stuttgart (2021) bereits fest.