Forschung

Fremde Immunzellen helfen Schwerstkranken gegen Hirnentzündung

Eine Klinische Studie unter MHH-Leitung überprüft eine neue Therapie mit Abwehrzellen gegen das JC-Virus.

Professorin Dr. Britta Eiz-Vesper und Professor Dr. Thomas Skripuletz stehen in weißen Kitteln in einem Labor

Setzen auf Abwehrzellen gegen die tödliche Hirninfektion PML: Professorin Dr. Britta Eiz-Vesper und Professor Dr. Thomas Skripuletz. Copyright: Karin Kaiser / MHH

Stand: 06. Juli 2023

Das humane Polyomavirus 2 – früher bezeichnet als John-Cunningham-(JC-)Virus – infiziert etwa 70 bis 90 Prozent aller Menschen weltweit, ohne dass die meisten es überhaupt bemerken. Doch einmal in den Körper gelangt, schlummert das Erbgut des Erregers dort weiter. Ist das Immunsystem durch eine schwere Erkrankung oder immunsuppressive Medikamente geschwächt oder stillgelegt, wird das Virus reaktiviert und vermehrt sich. Über das Blut kann es in das Zentralnervensystem einwandern. Dann besteht die Gefahr für eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML). Diese seltene Gehirninfektion zerstört das Hirngewebe allmählich und führt häufig innerhalb von wenigen Wochen zum Tod.

Doch vor drei Jahren hat ein interdisziplinäres Team der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) einen bahnbrechenden Weg gefunden, die Ausbreitung des Virus aufzuhalten. Seitdem bietet die Klinik für Neurologie mit Klinischer Neurophysiologie eine Behandlung mit neuen Abwehrzellen an, die das Virus im Körper der Betroffenen zurückdrängen können. PML-Betroffene aus dem In- und Ausland werden seitdem an der MHH behandelt. Allerdings handelt es sich um Einzelfallentscheidungen für individuelle Heilversuche. Damit die Therapie als etablierte Methode künftig allen Patientinnen und Patienten zugänglich ist, soll eine multizentrische klinische Studie den neuen therapeutischen Ansatz unter Standardbedingungen überprüfen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt das Vorhaben für drei Jahre mit zunächst 1,7 Millionen Euro.

Passgenaue Spenderzellen übernehmen die Virusabwehr

Bis zur Entwicklung der neuen Methode gab es nur eine Behandlungsoption für Patientinnen und Patienten, die immunsuppressive Medikamente einnahmen: Die Immunsuppressiva wurden abgesetzt. So bestand die Chance, dass sich die PML nicht weiterentwickelt und möglicherweise ausheilt. Das Aussetzen einer Immunsuppression ist aber häufig nicht möglich und kann etwa nach einer Transplantation zum Verlust des Spenderorgans führen.

„Jetzt haben wir zum ersten Mal einen Ansatz, das Virus ohne größere Nebenwirkungen direkt zu bekämpfen“, erklärt Professor Dr. Thomas Skripuletz, Oberarzt an der MHH-Klinik für Neurologie. Die Lösung liegt im Blut gesunder Menschen, die zwar mit dem JC-Virus infiziert sind, jedoch nicht krank werden. Sie verfügen über passgenaue Abwehrzellen aus der Gruppe der weißen Blutkörperchen. Diese T-Lymphozyten erkennen den viralen Angreifer als körperfremd und leiten eine Immunantwort ein. Werden solche spezifischen T-Zellen in den Körper von PML-Betroffenen übertragen, bekämpfen sie dort das Virus, und der Zustand der Patienten stabilisiert sich.

Einzigartiges T-Zell-Spende-Register der MHH identifiziert die passenden Spender

„Das funktioniert allerdings nur dann ohne Probleme, wenn die Zellen der Spender die gleichen Gewebemerkmale haben wie die der Empfänger, also HLA-kompatibel sind“, erklärt Professorin Dr. Britta Eiz-Vesper, Immunologin am MHH-Institut für Transfusionsmedizin und Transplantat Engineering. Weil das Institut nicht nur einer der deutschlandweit führenden Hersteller für Virus-spezifische T-Zellen ist, sondern auch das einzige T-Zellspenderregister führt, kann die Wissenschaftlerin geeignete Personen für eine T-Zell-Spende schnell auffinden. „Wir registrieren bei unseren Blutspendern, die in das Register eingewilligt haben, nicht nur die HLA-Merkmale der Blutzellen, sondern bestimmen gleichzeitig die Anzahl spezifischer T-Zellen gegen unterschiedliche Viren“, sagt die Immunologin. So können wirksame und auch verträgliche T-Zellen von Spendern für eine Zelltherapie verwendet werden, die mit den potenziellen Empfängern nicht verwandt sind. Dafür wird das Spenderblut so bearbeitet, dass die gesuchten T-Zellen herausgefiltert werden. Dann können sie entweder direkt verabreicht oder für eine spätere Verwendung eingefroren werden.

Viruslast im Nervenwasser nimmt ab

Einzigartig ist nicht nur das T-Zell-Spende-Register. Auch die Geschwindigkeit, mit der die passgenauen Abwehrzellen hergestellt werden, ist herausragend. „Wenn wir einen passenden Spender gefunden haben, schaffen wir die Produktion quasi über Nacht, was für die Betroffenen ein echter Überlebensvorteil ist“, stellt Professorin Eiz-Vesper fest. Und je früher therapiert werden könne, desto geringer sei die Gefahr bleibender schwerer Schäden im Hirngewebe. Erbringt die klinische Studie nun den allgemeinen Wirknachweis der Behandlungsmethode, könnte aus der Einzelfall-Entscheidung eine für alle PML-Patienten zugelassene Therapie werden. Und das betrifft möglicherweise mehr Menschen als bisher angenommen. „PML steht vermutlich zu selten im Blick der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, auch weil es bislang keine Heilungsmöglichkeit gab“, sagt Professor Skripuletz. Zudem gebe es immer mehr immunsuppressive Behandlungen, was eine Hirninfektion durch das Virus begünstige. Und langfristig, so ist der Neurologe überzeugt, ließe sich das Therapieprinzip auch auf andere neurologische Viruserkrankungen ausweiten.

Die Studie wurde gemeinsam mit Professor Dr. Günter Höglinger beantragt. Sie wird koordiniert vom MHH-Zentrum für Klinische Studien (ZKS) und erfolgt in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der MHH aus der Klinik für Neurologie mit Klinischer Neurophysiologie, dem Institut für Transfusionsmedizin und Transplantat Engineering, dem Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie, der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie und dem Institut für Biometrie. Weiterhin beteiligt sind die Neurologischen Abteilungen der Unikliniken in Düsseldorf, Essen, Kiel, Köln und München.

Text: Kirsten Pötzke